von Dr. Angela Lammmert
Weiße geschwungene Linien eines Skeletts auf schwarz gewölkten Partien einer einfachen Holzscheibe zwischen den Alternativen JA und NEIN, die in diagrammatischen Segmenten von einem kreisrunden, grün und weiß gezogenen Außenrand eingefangen sind. Oder vier präzis mit schwarzer und weißer Farbe bedeckte Kreissegmente, deren dunkle Partien mit Paarzeichen markiert sind und jeweils neben einem hellen unbeschriebenen Pendant liegen. Auch hier gefasst durch einen farbigen Randstreifen: einem klaren Rot und einem gedeckten Grün. Zahlen für Zeitintervalle, Tag- und Nachtversionen, königsblaue Rotationsschleifen und gefüllte Kreise, kontrastiert mit einem weißen Rund. Farbmöglichkeiten – gedecktes Ocker, bleiches Gelb, lichtdurchflutetes helles Blau – „sprengen“ in ihren geometrischen wie mit dem Lineal oder Zirkel gezogenen Formen die Kreissegmente. Begriffe wie Poesie, Körper, Start oder Ende sind auf den Scheiben zu lesen. Man kann bewusst flüchtig gezogene Unterteilungen nachvollziehen, in deren Mitte der Tod seine zarten Hände nach oben hebt. Oder eine Kreisscheibe fungiert als Kompass, als geheimnisvoller Ort, an dem es nur den Osten, Süden oder Norden gibt – keinen Westen. Oder sie erscheint gar wie ein Hamsterrad, indem die Vorder- und Hinterbeine eines zum Galopp gewinkelten Pferdeweibes gemalt sind, deren längliche Bauchform in zartem Orange den grünen Außenrand des Kreises aufnimmt. Je intensiver man auf die handlichen, leicht hergestellt wirkenden Drehscheiben schaut, umso überraschender öffnen die sich kreisenden Details und der expressive, nuancenreiche und zarte Auftrag der Gouachefarben eine poetische „Welt der Wahl“ – die Welt der La Poulinière.
Die La Poulinierès sind Malwerkzeuge und Malregeln zugleich. Valérie Favre spricht von Zufall, von Spielregeln. Sie hat sie selbst aufgestellt, um Handlungsoptionen für den Arbeitsprozess für sich und andere zu strukturieren und zu grundieren. Durch das Drehen der bemalten Holzscheibe zeigt der Pfeil wie beim Glücksrad an, wie lange die Ausführung der so gewählten Option dauern soll oder welche Farbwahl vorgegeben ist. Am Ende der 1980er Jahre war die Arbeit mit der La Poulinierè für die Künstlerin Auftakt eines konzeptuellen Malprinzips. Es war gewissermaßen ihr Ausweg aus dem Bedürfnis, physisch und verschwenderisch mit dem Pinsel in die Farbe zu tauchen und sich dem Trend in der zeitgenössischen Kunst entgegenzusetzen, indem sie die Malerei durch den Diskurs und das Wort ersetzt und das Werk ins Installative, Zufällige und Funktionale rückt. Der Begriff La Poulinière ist nicht zufällig gewählt, sondern als ein gezielt gesetzter, feministisch konnotierter Kommentar zu Marcel Duchamps 3 Stoppages étalon zu verstehen. Nicht mehr die Rolle des Zufalls im Verhältnis zum Messen und zum Rationalem als Denkspiel soll es sein, sondern das Verhältnis zum Sinnlichen der Farbe und des Farbauftrages wird ausgelotet. Jene Handlungsanweisung zum Malen wird durch die ausführende Hand im wörtlichen Sinne „begriffen“, körperlich erfahren und transformiert. Kann man Duchamps 3 Stoppages étalon auch mit „Zuchthengst“ übersetzen, ist die Übertragung für La Poulinière ins Deutsche „Zuchtstute“: Das orangefarbene Pferdeweib mag die Verkörperung dieser Idee sein.
Warum aber stellt Valérie Favre am Ende der 1980er Jahre ihre erste La Poulinière – im Unterschied zu den eingangs beschriebenen neuen Objekten eher einem Stundenglas ähnlich – nicht aus? Es erschien ihr nicht sinnvoll, den „anderen Pinsel“ neben das gemalte Bild und damit das Werkzeug neben das Werk zu installieren. Die La Poulinière wird eher als Referenz in Publikationen abgebildet, aber nicht oder nur am Rande im Ausstellungsraum präsentiert. In der jetzigen Ausstellung ist demgegenüber eine Ansammlung dieser neu realisierten „Apparate“ das Herzstück des Konzeptes. An einem anderen Wendepunkt von Favres Arbeit – 2017 – setzt sie verstärkt die La Poulinière für das Malenein. In der Regel entstehen parallel oder im Vor- und Nachgang Zeichnungen, tagebuchartige Skizzen, welche die Bilder vorbereiten, begleiten und kommentieren. 2017 geschieht dies ohne explizite Zeichnungsübersetzung. Es entwickeln sich zu entschlüsselnde Zeichen- oder Notationssysteme, die sie auf Reisen mit ihrer Reisepoulinière entwickelt und deren Struktur und Regeln durch die Handhabung eines liegenden Scheibenobjektes ausgewählt werden.
Auf dem Höhepunkt ihrer schwarz-gelben Bilder der Suicide Series (2003–2013) bzw. mit dem Le Bureau des Suicides (2020) scheint Favre erneut vor einem Wendepunkt in ihrer Arbeit zu stehen. Angesichts des in der Corona-Zeit konzentriert entstandenen Zyklus der dunkel schimmernden Le bateau poètes (2020) – der von Dichterinnen und Dichtern handelt, die sich freiwillig für den Tod entschieden haben – wird sichtbar, was die La Poulinières schon immer waren: eine Umkehrung des Prinzips der kleinen Duchamp’schen Rotoreliefs (1918-1935), deren Mitspieler und zugleich Vorgänger – die Arbeit Rotierende Glasplatten. Präzisionsoptik (1920) – in dessen Atelier wie in einem Labor fotografisch inszeniert wurden. Die Fotografien sind nicht nur Abbildungen von Werken sondern selbst Werke. Die Rotoreliefs verkörpern in ihrer Auseinandersetzung mit der Darstellung von Bewegung ästhetische Versuchsobjekte für den von Duchamp proklamierten Abschied von der Malerei, der in dem Missverständnis des auf der Linie und nicht auf der Farbe beruhenden perspektivischen Raumes gründet.
Im Atelier von Valérie Favre sind in unterschiedlich langen Reihungen insgesamt über 20 La Poulinières wie in die Vertikale aufgerichtete Rotoreliefs auf Arbeitstischen installiert. In einem anderen Arbeitsbereich des Raumes finden sich großformatige Bilder, darunter die Werke der Serie Le bateau poètes, deren Pinselduktus eine gewollte malerische Unschärfe inszeniert. Dem stehen die kleinformatigen bemalten Holzscheiben mit ihren die Palette der Bilder reflektierenden Farben und geometrischen Strukturierungen gegenüber: Verknüpfungen von unterschiedlichen, aber aufeinander bezogenen Elementen als Versuchsanordnung. Es handelt sich allerdings hier um eine Versuchsanordnung, die vom Denken in der Farbe ausgeht. Das orangefarbene Pferdeweib, die „Zuchtstute“ auf einer der eingangs beschriebenen La Poulinières erinnert an den Fisch, den Duchamp auf seinem Rotorelief Nr.5: Poisson Japonais (1935) gleichermaßen an den unteren Rand der Scheibenform setzt, allerdings hier als zeichenhafte Verdickung der geometrischen Spiralform und nicht als farblich nuanciertes Element mit expressivem Gestus in einem geometrischen Netz.
In dem Konzept zur jetzigen Ausstellung gewinnen die La Poulinières eine ihnen bisher nicht zugewiesene Bedeutung. Anders als bisher stellt Valérie Favre ihren Arbeitsprozess und damit die Spielregeln selbst zur Wahl, quasi als ein Angebot an die Teilnehmenden. Sie verwandelt die Malwerkzeuge durch die serielle Installation auf einem leichten flachen Holzregalsockel in ein flexibles Objekt: Der Arbeitsprozess wird zum Kunstwerk und ermöglicht die Kombination mit temporär wechselnden Ausfertigungen in der Ausstellung, die nicht nur von Favre angefertigt werden. Auf eine als Wandmalerei installierte Schultafel wird die Künstlerin nach durch die von La Poulinière getroffene Wahl der eigenen Handlungsoptionen mit Kreide zeichnen. Aber auch die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler werden sie zum Malen und Ausstellen benutzen. Zugleich fungieren die La Poulinières als offen gelegter Hintergrund gezeigter Arbeiten. Sie eröffnen die Chance, einen Ausstellungsraum erst langsam zu füllen, ihn anfangs fast leer zu lassen, so wie es als Entsprechung des Prinzips der Stille bei Robert Rauschenberg und John Cage auch in Favres Experiment mit den Nichtfarben – ihren weißen und schwarzen Bildern – von Anfang an als formales Prinzip verborgen ist. Stille als Ausdruck des Zweifelns an Worten. Die der Künstlerin gewidmete Ausstellung ist also keine Präsentation von ihren im Atelier hergestellten Werken, sondern eine sich ständig verändernde Konstellation mehrerer Akteure und deren Arbeiten: von haptischen und ephemeren Bildern, Arbeitsspuren und Gesprächssituationen im Raum.
Damit wird die Ausstellung selbst zum Kunstwerk oder besser zum Labor, die La Poulinière zur Kuratorin und zugleich zur formgebenden Maschine. Die Ausstellung kann so als Übung und als Experiment verstanden werden. Die Entwicklung und die Veränderung als Prinzip des Artistischen steht dabei im Zentrum: der Prozess als Werk. Das Werkzeug, die La Poulinière, als Kuratorin – wie ist das zu verstehen? Sehen wir uns dazu das Geplante genauer an. Die dem Theater verbundene Künstlerin zielt auf eine dramaturgische Inszenierung der Ausstellungsräume. Das Auswahlprinzip für die Dauer des Auszustellenden und den Ort innerhalb der Raumfolge erfolgt durch den Einsatz der La Poulinière. Grundlage dafür ist die Einladung von sechs Künstlerinnen und Künstlern, die in Berlin arbeiten und leben und jeweils mit anderen kulturellen Hintergründen verbunden sind: von Japan über Algerien bis Israel. Die Platzierung von deren Arbeiten in den Ausstellungsräumen und die Festlegung des Zeitraums, in dem diese zu sehen sind, wird quasi durch die La Poulinière festgelegt. Voraussetzung dafür ist, dass die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler sie als Zufallsgenerator benutzen, um die von ihnen vorab ausgewählten Beiträge in der gemeinsamen Präsentation zu situieren oder vor Ort anzufertigen. Alles wird miteinander verknüpft.
Dies geschieht nicht ohne Setting und das Setting ist von Valérie Favre. Es ist vom Impuls getragen, alles miteinander zu verknüpfen und in Veränderung zu halten: Das statische Bild ist das Ziel und tritt dennoch aus seinen Grenzen, seinen Rahmungen, seiner Positionierung an der Wand. Darum hat die Ausstellung vier unterschiedlich und aufeinander bezogene Akzentuierungen. Den Auftakt bilden die titelgebenden Objekte: eine Anzahl von La Poulinières, die auf mehreren Arbeitstischen seriell installierten Drehscheiben und eine großformatige Tafel für vor Ort entstehende Arbeiten der Künstlerin, die gelöscht, erneuert oder ergänzt werden und durch den Einsatz der La Poulinière ihre jeweilige Ausrichtung bekommen. Der Blick wird dabei in den Hauptraum frei, in dem bei Abwesenheit der Künstlerin eine „gestapelte“ Installation eigenen Sitz- und Tischmobiliars zu sehen ist. Es ist der Raum für die Gesprächsplattformen, bei denen die Sessel, Stühle und Tische zum Einsatz kommen – immer mit dem Blick auf die Tafel als Ort des Zeichnens mit Hilfe der La Poulinière.
Das große Format der Tafel korrespondiert im dritten Raum mit einer auf die Maße der Ausstellungswand ausgerichteten großformatigen, schwarz schimmernden Leinwand, die im Unterschied zur Präsentation eines Vorgängerbildes bei der Ausstellung anlässlich der Nominierung des Prix Marcel Duchamp im Palais Paris 2012 ohne Keilrahmen gezeigt wird. Die Frage der Grenze, die sich in der Malerei mit jeder Form der Rahmung des Bildes stellt, löst sich beim Thema „Kosmos“, so der Titel der Leinwand, anders auf.
Man fragt sich, ob das Temporäre als Ausstellungsprinzip, das dem Statischen und Dauerhaften des Bildes gegenübersteht, in dieser wandbildartigen Arbeit seine Rückbindung an die italienische Freskomalerei der Frührenaissance aufruft und das Orts- und Zweckgebundene mit der Transportabilität der Malerei verbindet. In Favres Atelier steht vor einer Postkarte von Sandro Bottichellis Frühling (1477–82) eine diagrammatische Zeichnung, deren Thema etwa das Verknüpfen von Bildelementen wie Kleidern, Titeln, historischen künstlerischen Positionen und Fragen sind, überschrieben mit dem braun-rot unterstrichenen Begriff „Poulinière“. Im Duktus des schichtenweisen Farbauftrages bleibt der Prozess des Malens vergleichbar den monochromen Farbpartien der La Poulinière spürbar.
Das 5 x 6 Meter messende Bild Kosmos ist weitgehend frei von figurativen Elementen und lädt mit seinen changierenden Farbtönen und -texturen zur Kontemplation ein. Alles ist denkbar, alles kann verknüpft werden – so auch im „Goldenen Exil“: dem Thema und der Ausgangsidee der Gesprächsplattformen. Die Mitakteure tauschen sich aus über das jeweils besondere Ziel, das sie an diesen Ort des Arbeitens zusammengebracht hat und das dem Wunsch des gewählten Exils vorausgeht. Alle sind Teil eines gemeinsamen Universums. „Es gibt keinen Planeten B“ – so Valérie Favre. Der vierte Ausstellungsraum schließt an den Auftaktraum mit den La Poulinière-Objekten an und präsentiert Skizzen und Zeichnungen, die in diesem Zusammenhang entstanden sind. In allen Freiräumen an den Wänden können die Arbeiten der Mitstreiterinnen für eine bestimmte Zeit gezeigt werden, so wie sie es selbst mit der La Poulinière ermittelt haben.
Spätestens hier erkennt man: es gibt nicht nur die Korrespondenz und Gegenüberstellung von sehr kleinen und sehr großen Formaten – ein wiederkehrendes Prinzip jenseits des seriellen Ansatzes von Valérie Favre – sondern auch eine Korrespondenz von Formelementen. Die geometrischen Kreise, Dreiecke oder Quadrate, die auf den La Poulinières, wie eingangs beschrieben, immer wieder auftauchen, scheinen das kommende Thema der Künstlerin anzukündigen. Das bestätigt auch eine Gruppe von Zeichnungen im Atelier. Ihre Auseinandersetzung mit konstruktiven Formen und der malerische Überschreibung von performativen und fotografischen Arbeiten in Self-portrait after Odilon Redon, The Fallen Angel (1880) (2017) oder Rediscription I und II (2018), in denen mit malerischen Selbstinszenierungen Posen und Formensprachen der russischen Konstruktivisten aufgegriffen werden, findet derzeit über die La Poulinière zurück in die Malerei. Auch die kommenden, in der Ausstellung nicht gezeigten La Poulinières nehmen darum folgerichtig größere Formate an. Die Rotorelief-artigen Scheiben verselbstständigen sich zum geometrischen Muster. Zugleich wird die drehbare Kreisform der La Poulinière zum Glücksrad.
Zufall, Spiel, Einverleibung und Umwendung von und mit künstlerischen Wurzeln ist im Werkverlauf von Valérie Favre an einem Wendepunkt angelangt, an dem Duchamp, wie am Anfang ihrer bildkünstlerischen Arbeit, als produktiver Gegenpol ihrer Polemik und zugleich im Sinne einer eigenen Einordnung in einen Kunstkanon, der sich nicht nur auf die Malerei bezieht, wirksam wird. Welcher Rhythmus ergibt sich durch den Zufallsgenerator La Poulinière und wie unterscheidet er sich vom Messbaren und dem Kalkül der 3 Stoppages étalon? Was kann ich wählen und: Wie kann ich wählen? Kann dieser Arbeitsprozess zur Ausstellung werden und inwiefern stößt er die Tür weiter auf, als es die Ironisierung historischer Quellen vermag? Ist es die Rolle des Zufalls, die interessiert oder ist es nicht eher der Prozess der Verknüpfung, der zur Ausstellung gelangt? Wenn Duchamp, nach seinem wichtigsten Kunstwerk gefragt, antwortet, dass die Arbeit 3 Stoppages étalon die „Triebfeder“ seiner Zukunft anschlug, um sich mit dieser Zufallsoperation „zu befreien“ und mit der Abbildung des Raumes auf der Fläche zu beschäftigen, ist es gerade diese Oberfläche des Malgrundes, die den Sehnsuchtspunkt im Arbeitsprozess der Künstlerin darstellt. Nicht die Entpersönlichung der Linie interessiert, sondern, im Gegenteil, ihre subjektive farbliche Unschärfe. Es ist nicht allein die Notation des Formfindungsvorgangs, sondern gleichermaßen der Rhythmus der Farbwerdung durch das Prinzip der La Poulinière – der Arbeitsprozess als Werk –, dem die Malerei von Valérie Favre ihre künstlerische Eigenart verdankt. Das Bild ist sowohl Instrument als auch Ergebnis der Laborsituation Ausstellung.