Valérie Favre und Annette Tietz im Gespräch

Annette Tietz: Du bist Malerin. In deiner Arbeit beschäftigst du dich mit Themen wie der Aura des Künstlers in der Gesellschaft oder der Zuschreibung überkommener Geschlechterrollen. Dabei greifst du in immer neuen Werkgruppen einzelne Gemälde oder auch Motivgruppen aus der Kunstgeschichte auf, befragst sie neu und unterziehst sie einem malerischen Prozess, den du auch als „Redescription“ oder Reinszenierung bezeichnest. Welches Potential haben für dich diese Bilder der Kunstgeschichte und warum greifst du sie wieder auf?

Valérie Favre: Die „Resdescription“ von Bildern oder Fotografien, die schon existieren, ist eine Kategorie meiner Arbeitsweise. Ich verwende sie als eine Art Plattform von Entwicklungen, denn darin ist schon alles enthalten: die Geschichte, die Symbolik, die Archetypen. All dies ist schon bewohnt und ich nutze den Rahmen, um daraus eine neue Inszenierung zu bauen, um sie gewissermaßen zu reinszenieren.

Die Referenzen an die Kunstgeschichte und das serielle Arbeiten haben sehr viel zu tun mit einer Art von Konstellation, so wie man sie im Universum findet. Es ist für mich wie ein Schema, wie Strukturen, in denen ich mich finden kann. Manchmal bewege ich mich auch wie in einem Universum ohne Sauerstoff …

A.T.: In einem Text in einem deiner Kataloge schreibt der Autor Thomas Hirsch[1] über Archetypen in der Kunst und gerade auch in der Literatur, die nach Carl Gustav Jung in uns wohnen und immer wieder in unterschiedlichen Zusammenhängen auftauchen, so wie etwa der Kaspar, die Großmutter und viele mehr – das fand ich ein ganz schönes und auch sehr treffendes Bild. Wir leben ja nicht allein auf der Welt, sondern sind auch ein Speicher, nicht nur von Energie, sondern auch von Geschichten und Interpretationen über unsere Welt, über uns und die Welt – und dass dies bei dir immer wieder auftaucht, hat, vermute ich, auch etwas mit einem starken Unterbewusstsein zu tun, sonst könntest du diese Figuren ja nicht evozieren.

V.F.: Das ist mit vielen Erlebnissen und Lektüren verbunden. Du erwähnst Carl Gustav Jung, dem ich sehr nahe stehe und der sehr wichtig für mich ist, wie die Psychoanalyse überhaupt und ebenso die Literatur.

A.T.: Das Disparate der Welt in unserer Wahrnehmung, unserer Lebenssituation zieht sich ja bis heute durch – das sehe ich ein bisschen als Prinzip und auch als Struktur von deiner Arbeitsweise: also nicht das einzige oder endgültige ausformulierte Bild als Aussage zu schaffen, sondern dieses Disparate, das Nebeneinander, das Geschichtliche, die eigene Verortung im Bild stehen zu lassen oder eben auch ein Bild dafür zu finden.

V.F.: Genau das ist so die Konstruktion, die dahinter steckt, deswegen brauche ich unbedingt den Zyklus, weil ein einziges Bild da nicht genügt …

A.T.: … deswegen ist die Arbeit in Zyklen für dich auch sehr kennzeichnend.

A.T.: Deine Arbeitsweise in Zyklen besteht aus unterschiedlichen Themen, unterschiedlichen Strukturen. Du arbeitest ja auch nicht nur malerisch, sondern wie jetzt im Fall unserer Ausstellung auch in Form eines Projektes, was für dich ja ungewöhnlich ist.

V.F.: Ja, es ist ungewöhnlich! Danke für diese Einladung, es ist phantastisch, dass ich einfach so mit solch einer ungewöhnlichen Idee kommen durfte, eine Ausstellung erstmals ohne Bilder oder fast ohne Bilder zu präsentieren! Deine Einladung kam im richtigen Moment und ich dachte von Beginn an daran, die Galerieräume als leere Wohnung zu nutzen und nicht als Wände für Bilder. Und da kam ich sehr schnell auf das Thema des Exils, weil ich oft damit konfrontiert bin – wegen der Muttersprache, wegen der Sprache … 

A.T.:  Das Thema des Exils hat ja in den letzten Jahren – nicht zuletzt nach den letzten großen Flüchtlingswellen – eine sehr große Bedeutung in der Öffentlichkeit und auch in den politischen Diskussionen bekommen. Du hast nun für die Ausstellung Künstler*innen eingeladen, die, so wie du, in anderen Ländern, anderen Kulturen geboren wurden und aufgewachsen sind, jetzt in Deutschland leben und sich durchaus im Exil befinden – allerdings haben sie solche existentiellen Erfahrungen wie Flucht, Vertreibung, Gewalt ja so nicht erlebt. 

V.F.: Abgesehen von Ursachen des Krieges und der Verfolgung ist das frei gewählte Exil von Künstler*innen ein anderes als das der weltweit Geflüchteten und Flüchtenden. Die Künstler*innen, die sich ohne Druck durch die Länder bewegen, sind ganz sicher privilegiert. Ich würde dies eigentlich nicht als Exil beschreiben. Aber das werden wir in den Gesprächen in der Galerie erfragen. Der Titel ist zwar „Exil“, aber ich meinte damit mehr eine Art „goldenes“ Exil. Das Exil in seinen vielfältigen Aspekten und Erscheinungsformen – als universale Erscheinung, als Moment des Ephemeren, als eng mit der Sprache verbundenes Problem, als persönlich-individuelle Frage, als Extremfall von ‚Heimatlosigkeit’ möchte ich Dialog mit den eingeladenen Künstler*innen diskutieren.

A.T.: Was verstehst unter dem Begriff Heimat oder wo ist für dich deine Heimat?

V.F.: Meine Heimat ist meine Muttersprache. Das bedeutet Französisch – es kann irgendein Ort sein, wo man Französisch spricht. Welcher es sein wird, weiß ich noch nicht. Aber ich denke, ich werde wieder durchs Universum fliegen, um an einem anderen Ort zu landen.

A.T.: Deine künstlerische Laufbahn begann im Theater und im Film. Bis heute bestimmt das Performative in hohem Maße deine gesamte künstlerische Arbeit. Die Szenerie in deinen Bildern hat oft bühnenartige Strukturen. Du benutzt Strategien des Theaters und des Films wie etwa Schnitt und Montage, Verlangsamung der Handlung oder das Erzählen aus dem Off. Du hast gesagt, du benutzt die Malerei, weil du insgeheim eine stille Regisseurin bist. Ist das jetzige Projekt in der Galerie Pankow auch ein Anknüpfen an performative Strukturen?

V.F.: So gesehen, schon. Die Bühne ist jetzt nicht mehr nur das Gemälde, die anfangs weiße Leinwand …

A.T.: Du nutzt auch die Galerie als Bühne, in den einzelnen Räumen finden unterschiedliche Akte, Handlungen, Veranstaltungen statt.

V.F.: Das war auch die Idee des Projektes: eine Entwicklung, eine Transformation von A bis Z. Im Verlauf der Ausstellung wird stets etwas passieren. Das Thema Zeit ist für mich dabei extrem wichtig – nicht in Bezug zu ihrem Vergehen, zum Altern, sondern im Sinne des Kairos.

A.T.:  Und du versuchst jetzt, in diesem Projekt Zeit, Zeitablauf und auch eine Entwicklung sichtbar zu machen. Das finde ich interessant und deshalb hatte ich auch sofort zugesagt. Der klassische Ablauf einer Ausstellung ist hier nicht gegeben, wir haben mit deinem Projekt eine völlig andere Situation: Zur Eröffnung ist nichts da. Und was wird sich dann entwickeln?

V.F.: Man kann die Entstehung und die Entwicklung einer Idee verfolgen, von einem Moment zum nächsten. Die Zeit ist dabei wie das Wasser, das man versucht in der Hand zu halten, und es fließt zwischen den Fingern durch. Im ersten Moment der Eröffnung ist sicher auch mit Enttäuschung zu rechnen.

A.T.: Lassen wir uns überraschen [lacht], auf diesen Moment freuen wir uns ja schon.

Ich finde das großartig, dafür ist ein kommunaler Ort ja auch da, dass man so ein Experiment wagen kann, um etwas sichtbar zu machen, das vielleicht nicht so naheliegend ist, das Kunst aber ganz eminent auch ausmacht.

Das Moment des Ephemeren greifst du ja stark auf und hast auch eine schöne Form dafür gefunden – vielleicht kommen wir damit zur La Poulinière. Du beziehst dich mit La Poulinière auf Marcel Duchamp und seine Readymades, insbesondere auf seine 3 Stoppages étalon (1913–14) und deren konstituierende Aktion. Duchamp bestimmt die Länge eines Standardmeters durch den Fall von drei Seilen dieser Länge, die in Wellen auf dem Boden liegen bleiben. Duchamp steht als Synonym für den Beginn der Avantgarde in der Kunst. Was verbindest du mit Duchamp, warum hast du seine Readymades aufgegriffen? Geht es dir um den Akt des Beginnens oder eher um das Unkalkulierbare, den Zufall, der in aller kreativen Arbeit steckt? Wie bringst du die Poulinière in der Ausstellung zum Einsatz? Das Thema spielt seit den 1980er-Jahren eine Rolle in deiner künstlerischen Arbeit. Du hast mehrere Objekte der Poulinière über die Zeit entwickelt – die Ur-Poulinière von 1989, die Reise-Poulinière, jetzt eine eigens für die Ausstellung angefertigte Poulinière mit variablen Scheiben. Darin liegt auch eine Kontinuität im Ungleichzeitigen. Welchen Bezug siehst du zu deinem künstlerischen Schaffen insgesamt? Gibt es eine Entsprechung in deiner Malerei oder ist es ein separater Handlungszweig in deiner Kunst? Vielleicht kannst du die Idee dahinter noch etwas genauer erklären.

V.F.: Das ist ein wichtiges Thema für mich und ein Kern der Ausstellung. Die dritte Poulinière ist eine wichtige Figur für diese Inszenierung. Meine erste ist damals in Paris entstanden und sie hat auch mit meiner ganzen Entwicklung zu tun. Dieses Objekt erscheint wie ein Stern, wie eine Metapher für die ganze Zeit der Ausstellung. 

Damals in Paris, als ich begann, mich mit der Poulinière zu beschäftigen, besuchte ich oft das Collège international de philosophie. Es war für mich eine Herausforderung, weil ich von Mathematik, Logik, Kunstgeschichte, Kunsttheorie mehr erfahren wollte und dieses Collège war für alle geöffnet. Jeden Mittwochabend war ich zwei Stunden dort, danach setzten sich die Diskussionen oft bei Bier oder Wein fort – das waren schöne intellektuelle Momente für mich, die mir extrem viel, auch viele Ideen, gegeben haben. Ein Mitglied dieses Collège war Thierry de Duve. Besonders beeindruckt war ich von seinen Vorlesungen zu Marcel Duchamp, parallel zu einem Buch, das er über ihn schrieb. Das hat mich im positiven Sinne sehr irritiert. Natürlich ist Duchamp eine Ikone für die ganze Kunstgeschichte, für alle Künstler*innen heute, für die Dada-Bewegung usw. Ich fand alle seine Arbeiten sehr still, sehr klug, sehr schön und hatte doch das Gefühl, da fehlt etwas. Nicht, dass ich mich als besser empfand, aber es fehlte etwas. Gleichzeitig wollte ich trotzdem eine Hommage an Marcel Duchamp mit Bezug zu seiner Arbeit 3 Stoppages étalon[2] schaffen. Ich dachte mir, ich stelle die Stute daneben, rund, mit gleicher Bewegung und auch mit dem Zeitbezug. So entstand die erste Poulinière mit der Sanduhr, die eine Dauer von drei Minuten anzeigt. Sie ist nicht in Pankow zu sehen.

A.T.: Sie hat etwas sehr Spielerisches – die wievielte Poulinière ist das jetzt eigentlich? Die erste ist ja von 1989 – die Ur-Poulinière, dann gibt es die Reise-Poulinière und es gibt die Poulinière jetzt für unsere Ausstellung.

V.F.: Genau, es ist die dritte. Die erste ist eine Skulptur geworden, ich benutze sie nicht mehr. Mit der Reise-Poulinière arbeite ich, wenn ich längere Zeit unterwegs bin. Sie wird auch mit einer kleinen Erklärung in der Ausstellung zu sehen sein. Und die dritte wurde extra für Pankow gebaut, für den Austausch mit den Künstler*innen, für die Kreidezeichnungen, für das gesamte Projekt. Aber danach wird sie ebenfalls ruhen. Ihre Rolle und ihre Aktivität in diesen sechs Ausstellungswochen sind dann dokumentiert und sie wird zum Objekt.

A.T.: Also ist die Poulinière dann auch so etwas wie ein Zufallsgenerator?

V.F.: Auch bei der Pankower Poulinière treffen Regeln und Zufall aufeinander. Sie kommt beispielsweise bei den Einladungen an die Künstler*innen zum Einsatz. In der Galerie werden nicht nur meine, sondern auch jeweils eine Arbeit von ihnen, die sie aus ihrem Atelier mit in die Ausstellung bringen, gezeigt. Die Poulinière wird dann festlegen, wie lange die Arbeit präsentiert werden darf. Nicht du, nicht ich, sondern die Poulinière als Generator, als Kurator. Ich sehe das auch als einen wichtigen Aspekt ihrer Rolle an, als Möglichkeit für uns, das Kuratorische zu verlassen und ihr die Entscheidung als eine Art von Zufall zu übergeben …

A.T.: Nicht nur das Kuratorische, sondern auch das Rationale wird damit verlassen, um dem Immateriellen wieder ein bisschen mehr Raum zu geben. Aber du benutzt die Poulinière im Rahmen der Ausstellung ja auch selbst …

V.F.: Ja, für die Kreidetafel zum Beispiel: Da lasse ich mir von der Poulinière etwa drei oder vier Aufgaben stellen – sie wird dann nach den von mir aufgestellten Regeln entscheiden, was gezeichnet wird und was nicht. Es ist eine Art Glücksrad. Es gibt unterschiedliche Räder, die man tauschen kann, und ein paar davon notieren verschiedene Zeiteinheiten. Die Poulinière entscheidet auch, wie lange die verschiedenen Zeichnungen auf der Kreidestafel stehen bleiben. Ich wollte damit der Idee des Ephemeren und Flüchtigen einen Ausdruck verleihen.

A.T.: Im Rahmen der Ausstellung wird das von dir gegründete Bureau des Suicides eröffnen. Seit 2000 widmest du dich als Künstlerin dem Thema des Freitods und hast dafür eigens eine Serie von Malereien[3] entwickelt. Die bisher rein künstlerische Perspektive auf das Thema willst du nun erweitern und es aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten: soziologisch, geschichtlich, poetisch und philosophisch. Es entsteht mit dem Bureau des Suicides eine Art Labor, in welchem das Thema auf verschiedenen Ebenen diskutiert werden kann. Was ist für dich der Anlass, dich mit dem Thema zu beschäftigen, es vor allem in dieser Form in die Öffentlichkeit zu tragen und zum Thema künstlerischer Auseinandersetzung zu machen?

V.F.: Nach diesem Zyklus war dieses Thema immer noch sehr aktiv, die Serie war abgeschlossen. Die Politik hatte begonnen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, aber in der Malerei wurde der Suizid nicht allzu oft behandelt. Ich versuchte das mit Pinsel, Farbe, Fläche, habe das Thema malend bearbeitet, aber danach gärte es im Herzen weiter, es wollte weiterentwickelt werden, aber wie? Ich wollte keine Skulptur machen, keinen Text schreiben. Da kam mir die Idee, dass man vielleicht einen Austausch mit anderen darüber initiieren könnte. Man spricht heute mehr über dieses Thema als in den 1990er-Jahren, es ist aktueller, es gibt mehr Literatur darüber auf verschiedenen Gebieten, nicht nur auf dem der Psychologie und Medizin, sondern auch in der Soziologie, der Philosophie. Viele Philosophen wie beispielsweise Albert Camus haben sich intensiv damit beschäftigt. Ich dachte darüber nach und kam auf die Idee, ein Büro zu eröffnen. Ich mag den Aspekt des Büros: „Bureau de l’attitude“, usw. Ich sehe das Büro nicht ganz positiv, eher als eine Absurdität unserer Gesellschaft. Also, die Idee des Büros war da, aber wie sie umsetzen? Ich habe zuerst diese Postkarte hergestellt. Deine Zusage war dann so etwas wie ein Elektroschock … Dann habe ich gedacht, ein Büro braucht erst einmal ein Schild an der Haustür. Somit kommt das Büro in die Galerie Pankow wie in ein anderes Büro …

A.T.: … in ein Amt.

V.F.: Ich wollte keine Vorträge hören, sondern auch selbst gern mitdiskutieren, in Form eines Austauschs mit Fragen und Antworten von denjenigen, die sich mit dem Thema auskennen, und dies dann mit Fragen der Kunst verknüpfen, weil ich von dort komme. Es soll dem nichts Biografisches anhaften, sondern eher beleuchten, wie sich das Thema in der Kunst entwickelt hat. Deshalb habe ich den Philosophen und Kulturwissenschaftler Thomas Macho eingeladen, der sich sehr umfassend mit dem Suizid auseinandergesetzt hat. Es war ein großartiger Zufall, das Thomas Macho, wie sich gleich in unserem ersten Vorgespräch herausstellte, sich auch mit Hugo Ball beschäftigt und darüber geschrieben hat.

Auf die Kunsthistorikerin Geraldine Spiekermann bin ich gekommen, weil ihre These, dass sich im Tränenfluss eine für die Kunst der Moderne besondere Form der Entgrenzung des Körpers realisiere, die Frage des Suizids ebenfalls berührt, wenn auch aus einer anderen Perspektive. In ihrer Dissertationsschrift begreift sie den Tränenfluss als einen Akt der Selbstauflösung, als eine Zersetzung des Körperlichen.

A.T.: Suizid ist ja nach wie vor ein Tabuthema, das mitunter aufkommt, wenn sich eine prominente Person das Leben genommen hat. Darauf folgt eine kurze öffentliche Debatte und dann ist es sehr schnell wieder von der Tagesordnung verschwunden, wie überhaupt das Thema Tod. Tod und Trauer sind ja existentielle Momente, die in der Kunst immer eine große Rolle gespielt haben, wo auch die Kunst wiederum eine Rolle spielt, um Tod und Trauer zu verarbeiten. Insofern sehe ich es auch als etwas Künstlerisches an, wie du dich diesem Thema näherst und es zu einem selbstverständlichen Teil unseres Lebens zählst.

V.F.: Kunst ist ein Ort, an dem es möglich ist, wieder zu leben. Ich wollte die Freiheit des Einzelnen betonen, das finde ich ganz wichtig. Wir können nicht sagen, wir sind frei und jemand ist schwerkrank und ihm wird diese Freiheit der Selbstentscheidung nicht gewährt. Es gibt diese „Exit“-Organisation in der Schweiz, dazu habe ich auch ein kleines Bild gemalt. „Exit“ ist ein Büro, wo man, wenn man schwerkrank ist, sagen darf: „Ich will nicht mehr.“.

A.T.: Ich denke dabei sofort auch an das Thema Euthanasie … Ich habe ja in Berlin-Buch das Denkzeichen[4] mitinitiiert und dafür gesorgt, dass es realisiert wird und mich damit viel beschäftigt. Es war und ist eine Anmaßung, über das Leben anderer zu entscheiden, auch wenn sie dazu vielleicht nur eingeschränkt in der Lage sind, aus welchen Gründen auch immer. Leben steht für sich, das sind ethische Grundsätze. Aber du siehst das Bureau des Suicides nicht nur unter der Überschrift des Selbstmordes, sondern auch der Sterbebegleitung?

V.F.: Ja auch, natürlich. Es ist im Grunde wie die Poulinière – es ist eine Regel, die im Voraus festgelegt wird. Als Bürger, die sich an die in der Verfassung festgelegten Gesetze halten müssen, sind wir – wie in allen Demokratien – ebenfalls ständig Regeln unterworfen.

A.T.: Mich würde aber nochmals interessieren, was du unter dem Begriff Suizid wirklich verstehst. Für mich sind es zwei Dinge – zum einen der Selbstmord, die Selbsttötung, aus dem Alltag oder einer Depression, Lebensmüdigkeit heraus, zum anderen eine aktive Sterbebegleitung für die wirklich sehr Kranken.

V.F.: „Exit“ in Zürich ist in dem Sinne keine Begleitung, das ist wirklich ein Willensakt. Du musst selbstverantwortlich eine Tablette schlucken. Eine Sterbebegleitung hingegen ist ein anderes Thema, das würde ich nicht als Suizid verstehen. Es geht mir um die Freiheit des Einzelnen, über sein Leben bis zum Ende selbst zu entscheiden. Denn man ist eigentlich nicht derart frei in dieser Gesellschaft. Wir wurden auch nicht gefragt, ob wir uns wünschen, in diese Welt zu kommen. Alles ist einer Ritualisierung unterworfen und ich möchte eine Plattform der Auseinandersetzung schaffen. Das Bureau des Suicides versteht sich als Plattform und nicht wie „Exit“ als ein Handlungsort der Selbsttötung. Es geht eher um einen Diskurs auf einem intellektuellen Niveau, der auch politische, auch durchaus störende Gedanken zulassen kann, der Diskussionen über diese Begrenzungen der Freiheit führt, und auch Beispiele aus der Kunstwelt berücksichtigt. Man denke an die vielen erfolgreichen Künstler*innen, die sich auch getötet haben.

A.T.: Dieses Thema unter der Überschrift der „Freiheit des Einzelnen“ gegenüber dem Recht der Gesellschaft, einzugreifen, zu thematisieren, empfinde ich als wichtigen Aspekt. – Ein Raum der Galerie wird durch das Bild Kosmos oder Universum bestimmt, das du extra für die Ausstellung gemalt hast, das die Wand komplett ausfüllt und damit den gesamten Raum dominiert. Was war deine Intention dabei?

V.F.: Zum Thema des Exils, wozu ich die anderen Künstler*innen mit einer Arbeit einladen möchte, wollte ich auch etwas beitragen. Ich wollte auf unsere allgemeine Fragilität hinweisen und zeigen, dass wir auf dieser Erde sind und zugleich in der Unendlichkeit verloren. 2012 hatte ich einen Zyklus mit dem Titel Fragments begonnen. Es handelt sich um Ausschnitte des Universums, also um einen ähnlichen Prozess wie beim jetzigen Kosmos. Wir befinden uns ja auch in einer Art Exil mitten im Universum.

A.T.: Man kann quasi darin eintauchen, sich sozusagen auch als kleinen Teil dieses riesigen Universums fühlen und vielleicht auch die Geringfügigkeit des Einzelnen gegenüber dem Großen und Ganzen spüren.

V.F.: Ja, es soll das Unendliche suggerieren, auf der Wand, ohne Rahmen, ohne Ende und Anfang, als Ausschnitt …

A.T.: Es ist ja ein Wandbild, das den gesamten Raum dominiert, also kein Tafelbild im klassischen Sinne – eigentlich ist es eine räumliche Installation. Du zeigst in einem Raum der Galerie auch eine Vitrine mit Zeichnungen und Skizzenbüchern, die im Vorfeld der Ausstellung entstanden sind und den Prozess der Annäherung und Auseinandersetzung mit dem Thema zeigen. Sind das Notate oder siehst du hier auch einen eigenständigen Wert der Zeichnungen in deinem Werk?

V.F.: Nein, sie sind nur „Zeugen“, denn das Konzept der Ausstellung zielt zu einem großen Teil auf die Entwicklung eines Prozesses, der von der ersten Idee bis zu ihrer Umsetzung reicht. In diesem Sinne soll diese Vitrinenkonstruktion eine Art Einführung zur Geschichte der Poulinière geben und erklären, warum sie nicht zufälliger Bestandteil der Ausstellung ist, sondern ihr wesentlicher Akteur …

A.T.: Also sind es zusätzliche Informationen, die den Prozess noch einmal deutlich machen. Aber unabhängig von der Vitrine, welche Rolle spielt die Zeichnung in deinem Werk?

V.F.: Eine sehr wichtige Rolle. Mit Ausnahmen, wo die Zeichnungen ein Werk bilden, wie zum Beispiel bei Le petit théâtre de la vie [5], sind meine Zeichnungen Notizen für mich, sie sind freier. Aber ich möchte in meiner Malerei so frei werden, wie ich es in meinen Skizzen bin.

Das Gespräch wurde am 23. April 2020 im Atelier von Valérie Favre in Berlin-Wedding.


[1] Thomas Hirsch: „Von Anfang an. Auktoriale Schöpfung und Partizipation bei Valérie Favre“, in: Valérie Favre, Ausst.Kat. Von der Heydt-Kunsthalle, Wuppertal-Barmen, 28.8.2016–08.01.2017, Dortmund, 2016, S. 119–127.

[2] Ètalon: frz. Hengst.

[3] Suicide Series, 2003–2013, Öl auf Leinwand, 129-teilig, je 24 x 18 cm.

[4] “Denkzeichen in Berlin-Buch für die Opfer der national­sozialistischen Zwangssterilisationen und ‘Euthanasie’–Morde” von Patricia Pisani, 2013.

[5] Le petits théâtre de la vie – eine Serie von Zeichnungen, die seit 2012 entstehen.